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Political Culture in the Early Modern Period.

Ecclesiastical Spaces in Urban and Rural Communities of Hildesheim, 1550-1750

Renate Dürr

The relationship between politics and religion has attracted renewed interest in recent years. Traditional views on confessional differences (e.g. obedient Lutherans; participatory Calvinism; separation of Church and politics in Catholic areas) now appear undifferentiated or simply inaccurate. Increasing attention is paid to the relationship between ‘high politics’ and ‘high theology’, by means of studies of theological and legal tracts and analysis of activities by secular and religious authorities. Communal or individual initiatives, however, appear at best in the context of protest and rebellion, both of which were more frequent than generally assumed, but also illegitimate. They should not be equated with political culture in general.

The ‘political culture’ of urban and rural communities between 1550 and 1750 – understood as opportunities for participation for different interest groups – forms the focal point of my Habilitation [German second doctorate] on the bi-confessional region of Hildesheim. It studies patterns and options of agency for clergymen, secular authorities and communes within ecclesiastical spaces, i.e. highly significant components of the local public sphere. The thesis is divided into three parts: 1) An analysis of the shapes and theological rationales of Lutheran and Catholic church spaces (‘Communal Church’ vs ‘Clerical Church’), with a view to underlying concepts of authority; 2) The social biographies and self-perceptions of Lutheran and Catholic pastors in areas controlled by the City and Chapter of Hildesheim. This part shows how secular and clerical claims for lordship over church spaces rested on bi-polar (shepherd-flock metaphor) or triangular (a society of three estates) models. 3) The final section scrutinizes interactions between clergy, secular rulers and communities in two fundamental (and contrasting) fields of action in Lutheran church space: procedures for the election of pastors in towns and villages on the one hand; and Catholic and Lutheran understandings of confession (as well as penitential practices of Lutheran parishes in the City of Hildesheim) from the sixteenth to eighteenth century on the other. Both of these fields have hardly been explored for the post-Reformation period.

While communal participation in elections of pastors – based on the principle of the ‘priesthood of all believers’ – appears probable (although it is often denied in secondary literature), confession and absolution seem to represent spheres of action under exclusive control of the clergy, especially in the self-perception of men of the cloth. However, an analysis of these fields of action for early modern Hildesheim reveals that all three ‘estates’ – i.e. clergy, secular authorities and parishes – claimed agency and powers within ecclesiastical space, defending their duties and privileges in varying coalitions and – depending on political circumstances – with varying degrees of success. All parties utilized elements of existing concepts of authority (communal church, shepherd-flock relationship, three-estates-model), prioritised certain features, ignored any unsuitable aspects and produced idiosyncratic fresh syntheses. The fact that all three models coexisted in Lutheranism allowed differing strategies of legitimisation in the appropriation and expansion of powers over church space. The political dimension of these actions emerges not least from the countless conflicts brought before the city council, the elector, neighbouring territories, the Imperial Chamber Court and even the Emperor himself.

HD Dr. Renate Dürr

Historisches Seminar

Johann-Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt, Germany

[translated by Beat Kümin]

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Politische Kultur in der Frühen Neuzeit.

Kirchenräume in Hildesheimer Stadt- wie Landgemeinden, 1550-1750

Renate Dürr

Seit einigen Jahren ist die Diskussion über das Verhältnis von Politik und Religion in der Frühen Neuzeit wieder lebhafter geworden, weil sich alte Zuschreibungsmuster über bestimmte Konfessionsunterschiede in dieser Frage (verkürzt gesagt: obrigkeitshöriges Luthertum; partizipationsoffener Calvinismus; Politik und Kirche eher trennender Katholizismus) als zu grobschlächtig, wenn nicht falsch erwiesen haben. In diesen neueren Forschungen wird jedoch zumeist das Verhältnis von „Hochtheologie“ zur politischen Theorie der Zeit diskutiert, werden theologische und juristische Schriften gelesen, Handlungen von Geistlichkeit und Obrigkeit analysiert. Gemeindeaktionen oder Initiativen einzelner Gläubigen dagegen werden durch diese Perspektive allenfalls im Zusammenhang von Unruhen wahrgenommen, die zwar im frühneuzeitlichen Europa häufiger anzutreffen waren, als man gemeinhin annehmen würde, die jedoch grundsätzlich mit dem Problem der Illegitimität zu kämpfen hatten und insofern nicht einfach als Signum der politischen Kultur dieser Zeit betrachtet werden können.

Die „politische Kultur“ Hildesheimer Stadt- wie Landgemeinden in der Zeit von 1550 bis 1750 – verstanden als die Frage nach den Partizipationschancen unterschiedlicher Gruppen in dieser bikonfessionellen Region – steht nun im Mittelpunkt meiner Habilitationsschrift. Dabei werden Handlungsmuster und -optionen von Geistlichkeit, Obrigkeit und Gemeinden im Kirchenraum als einem eminent wichtigen Raum lokalpolitischer Öffentlichkeit analysiert. Die Arbeit gliedert sich in drei Teile: in einem ersten Teil werden der lutherische und katholische Kirchenraum selbst, werden deren Ausgestaltung und theologische Konzeption (Gemeindekirche versus „Priesterkirche“), unter der Fragestellung nach den zugrunde liegenden Autoritätskonzeptionen analysiert. Der zweite Teil betrifft die Sozialbiographien und das Selbstverständnis lutherischer und katholischer Seelsorger in Stadt und Kleinem Stift Hildesheim. Herausgearbeitet wird hier, in welcher Weise die Herrschaftsansprüche von Geistlichkeit und Obrigkeit im Kirchenraum auf einem bipolaren (Hirte-Herde-Metapher) oder dreigliederigen (Dreiständelehre) Kompetenzenmodell basiert. Im dritten Teil schließlich werden unter der Fragestellung nach dem Zusammenspiel von Geistlichkeit, Obrigkeit und den Gemeinden zwei grundlegende und grundsätzlich unterschiedliche Handlungsfelder im lutherischen Kirchenraum analysiert: zunächst das Procedere bei den Pfarrerwahlen in Stadt- wie Landgemeinden; anschließend das katholische wie lutherische Beichtverständnis des 16. bis 18. Jahrhunderts sowie die Beichtpraxis vor allem lutherischer Gemeinden in Hildesheim selbst. Beide Handlungsfelder sind für die Jahrhunderte nach der eigentlichen Reformationszeit so gut wie unerforscht.

Während eine weitgehende Beteiligung von Gemeinden in Bezug auf die Pfarrerwahlen nach dem Prinzip des „Priestertums aller Gläubigen“ wahrscheinlich erscheint (wenn auch in der Literatur zumeist negiert), gelten Beichte und Absolution als geradezu paradigmatische Handlungsfelder des Beichtvaters, und sie waren dies insbesondere auch nach dem Selbstverständnis der Geistlichen selbst. Die Analyse beider Handlungsfelder im Raum Hildesheim zeigt jedoch, dass über die gesamte Frühe Neuzeit hinweg sich alle drei „Stände“ – das heißt Geistlichkeit, Obrigkeit und Gemeinden – als Handlende und Verantwortliche im Kirchenraum begriffen und dieses Recht wie diese Pflicht in wechselnden Koalitionen mit – je nach politischer Kräfteverteilung – unterschiedlichem Erfolg verteidigten. Alle Beteiligten übernahmen Bestandteile der existierenden Autoritätsmodelle (Gemeindekirche, Hirte-Herde-Modell, Dreiständelehre), verabsolutierten einige Elemente, übersahen, was ihnen daran nicht passte und kombinierten diese in eigenwilliger Weise. Dass im Luthertum alle drei Konzepte nebeneinander bestanden, erleichterte unterschiedliche Legitimationsmuster bei dem Versuch einer Sicherung und Ausweitung der jeweils eigenen Ansprüche im Kirchenraum. Die politische Dimension dieser Handlungen ergibt sich nicht zuletzt aus den unzähligen Konflikten, die den Rat der Stadt, den Kurfürsten, die benachbarten Territorien, das Reichskammergericht und nicht zuletzt auch den Kaiser immer wieder auf den Plan riefen.

HD Dr. Renate Dürr

Historisches Seminar

Johann-Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt

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